Notlandung im Güterbahnhof: DHC-2 Beaver in Hamburg - fliegermagazin (2024)

Ein bisschen Abenteuerflair im Hamburger Großstadtrevier – das konnte man seit 1993 mit einer DHC-2 Beaver erleben. Das wuchtige Wasserflugzeug, Baujahr 1962, fiel allein schon durch seine Präsenz am Anleger des Sportboothafens an der Elbe auf, mitten in der City. Im Flug sorgte der markante Klang des Sternmotors für einen akustischen Kontrapunkt zum gewohnten Stadtlärm. Zahlreiche Touristen, Familien und abenteuerlustige Hafenbesucher aus aller Welt gönnten sich diese einzigartige Stadtbesichtigung aus der Luft. Das Ende der Beaver kam im Sommer des Jahres 2006 ebenso unerwartet wie verheerend. Danach fand in Hamburg nur noch drei kurze Jahre Wasserflugbetrieb statt (fliegermagazin 5/2011).

Am Morgen des 2. Juli warten im Yachthafen fünf Passagiere auf ihren Rundflug mit dem Hochdecker. Planmäßig kehrt die Maschine um 10.15 Uhr von ihrem ersten Rundflug an diesem Tag zurück, Mitarbeiter des Luftfahrtunternehmens weisen die Passagiere vor dem Einsteigen in die Notverfahren ein und verteilen die Schwimmwesten. Routine am Hamburger Wasserflugsteg. Die Beaver verlässt ihren Anlegeplatz um 10.30 Uhr und schippert gemächlich zur Startstrecke auf der Norderelbe. Am westlichen Ende bringt der Pratt & Whitney-Sternmotor die Maschine in Fahrt, der Pilot beschleunigt in östliche Richtung und hebt ab. Nach kurzem Anfangssteigflug dreht das Wasserflugzeug vorschriftsmäßig in einer Rechtskurve Richtung Süden ab, um die Lärmschutzzone über der Innenstadt zu meiden.

Beaver über Hamburg: Der Motor fällt aus

In kaum 400 Fuß beginnt plötzlich der Motor zu stottern und fällt aus. Ohne das Dröhnen des Neunzylinders geht die Maschine rasch in den Sinkflug über, der Pilot leitet sofort eine Linkskurve ein. Doch keine der zahlreichen Wasserflächen der Hansestadt ist ohne Hindernis erreichbar. Dem 52-jährigen Berufspiloten bleibt nichts anderes übrig, als auf das riesige Areal des Güterbahnhofs südlich des Hafengeländes zuzuhalten. Doch das ist mit Hindernissen wie Laternenmasten und abgestellten Waggons gespickt.Wenige Augenblicke später kracht die Maschine auf die Bahngleise.

Notlandung im Güterbahnhof: DHC-2 Beaver in Hamburg - fliegermagazin (1)

Beide Schwimmer werden vom Rumpf abgerissen und auf einen Güterwaggon geschleudert, der Rumpf überschlägt sich und kommt mit der Unterseite nach oben zum Liegen. Der Pilot und ein Passagier schaffen es, sich aus dem Wrack zu befreien. Schwerverletzt schleppen sie sich über die Gleise des Güterbahnhofs zu einer nahe gelegenen Straße. In diesen Sekunden steht das Wrack bereits in Flammen. Die übrigen vier Passagiere, die sich nicht aus der Kabine befreien können, verbrennen. Auch der Pilot stirbt wenige Stunden nach dem Unfall im Krankenhaus. Der einzige Überlebende muss in einer Spezialklinik behandelt werden und kann sie erst nach Monaten und mit bleibenden gesundheitlichen Schäden verlassen.

Beaver-Pilot: Alles richtig gemacht und doch keine Chance

Fünf Jahre später liegt der Untersuchungsbericht der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) vor. Die Ermittler nehmen in dem fast 50 Seiten starken Papier jedes Detail genau unter die Lupe. Das Ergebnis ist besonders aus Pilotensicht tragisch: Der Flugzeugführer hatte alles richtig gemacht – und dabei doch nicht den Hauch einer Chance. Die Ursache für den Motorausfall steht nach einer gründlichen Untersuchung fest: Ein Brand im Motorraum, ausgelöst durch auslaufenden Sprit an einem Leck zwischen Kraftstoffpumpe und Vergaser. Zwei Szenarien scheinen möglich: Die Schlauchleitung hat sich entweder am Verbindungsstück zum Vergaser gelöst – Ursache könnte ein zu kurzer Schlauch gewesen sein –, oder das Verbindungsstück zwischen Vergaser und Schlauchleitung war aufgrund von Materialschwäche oder einer zu stark angezogenen Verschraubung defekt. Wegen der enormen Brandschäden lässt sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen, wodurch das Leck entstand.

Notlandung im Güterbahnhof: DHC-2 Beaver in Hamburg - fliegermagazin (2)

Entscheidend für den fatalen Ausgang der Notlandung ist allerdings etwas anderes. Als die BFU-Ermittler die Notfallverfahren untersuchen, die im Betriebshandbuch der Wasserflieger festgehalten sind, kommen sie zu dem Schluss, dass es für den Piloten in der beschriebenen Flugsituation und -höhe keinen anderen Notlandeplatz als das ungeeignete Gelände des Güterbahnhofs gab. Das Regelwerk JAR-OPS 1 deutsch, das auch dem Flugbetrieb der Hamburger Wasserflieger zugrunde lag, sieht jedoch vor, dass in der Abflugstrecke Notlandefelder erreichbar sein müssen. Theoretisch hätte es eine solche Route sogar geben können, nämlich in Abflugrichtung geradeaus, die über Wasser führt. Gegen diese Streckenführung hatte sich aber die Genehmigungsbehörde ausgesprochen, um die Anwohner vor Lärm zu schützen. Starben fünf Menschen, weil Lärmschutz wichtiger war als Sicherheit?

Wasserfliegen in Hamburg: Fehler im System

Die Braunschweiger Ermittler finden eine weitere Schwachstelle im System. In dem kleinen Hamburger Luftfahrtbetrieb war der Pilot gleichzeitig Verantwortlicher Betriebsleiter, Flugbetriebsleiter, Technischer Betriebsleiter, Leiter der Qualitätssicherung und Luftfahrzeugführer in einer Person: Eine gegenseitige Kontrolle der einzelnen Aufgabenbereiche, wie vom Regelwerk JAR-OPS 1 vorgesehen, war damit nur schwerlich vorhanden – wie auch? Die BFU schlussfolgert, „… dass für Kleinunternehmen der gewerblichen Luftfahrt die Vorgaben aus JAR-OPS 1 deutsch (heute EU-OPS) nicht ausreichend praxisgerecht sind.“

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Und weiter: „Auch die Akzeptanz der Genehmigungsbehörden, wonach Kleinunternehmen die verschiedenen Verantwortlichkeiten und Funktionen in Personalunion besetzen können, löst das Problem nicht.“ Tappte der Pilot trotz seiner großen fliegerischen Erfahrung, speziell mit der achtsitzigen Beaver, damit letzten Endes in eine selbstgestellte Falle, indem er sich an behördliche Vorgaben hielt? In ihren Sicherheitsempfehlungen weisen die BFU-Ermittler darauf hin, dass bei künftigen Genehmigungen für den Wasserflugbetrieb ein geeignetes Gelände für eine Notlandung ausgewiesen sein muss. Weiterhin sollte die genehmigende Behörde durch Kontrollen sicherstellen, dass im gewerblichen Betrieb nur noch Flugzeugmuster mit solchen Leistungsdaten zum Einsatz kommen, die den festgelegten Routen folgen können – auch im Notfall.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 11/2011

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